Brief an meine Traurigkeit

    Hallo Traurigkeit,

    es ist schon fast 22 Uhr. Es ist Montag. Habe gerade meinen neue Simply Red CD aufgelegt. Bin ebenfalls gut aufgelegt und mir wird bewusst, dass Du heute überhaupt nicht zu Besuch bei mir warst.

    Frage mich, wie es Dir wohl geht. Gut oder schlecht und frage mich gleichzeitig, welche der beiden Eigenschaften als die angenehmere von Dir empfunden wird. Ich jedenfalls fühle mich wesentlich wohler, wesentlich mehr bei mir zu Hause, wenn Du nicht bei mir beheimatet bist, freiweg durch die Haustür polterst, ohne vorher zu klingeln, ich Dich bewirten muss und mir Dein Gerede (oder sind es etwa sogar Lügen) anhören muss.

    Warum machst Du das eigentlich mit mir? Du weißt sicherlich, was ich meine. Bin ich etwa dein Feind, den Du bekämpfen musst? Kannst Du mich nicht leiden und lässt mich deshalb immer wieder leiden, auf eine Art und Weise, die fast unerträglich ist, sodass ich am liebsten aus dem Fenster springen möchte, und es wäre sicherlich nicht das Kellerfenster, welches ich wählen würde. Bist Du ein Schmarotzer, ein Parasit? Saugst Du mich doch aus, raubst mir meine Energie, die ich eigentlich für Produktiveres benutzen könnte. Sitzt bei mir am Tisch und Deine Mitbringsel sind Einsamkeit und Sehnsucht nach altem Gewesenem. Holst schöne Bilder der Vergangenheit aus deinem Koffer, blätterst in den Seiten meines Geschichtsbuches, spulst Gespräche ab, manchmal auch ganze Filme und flüsterst mir ständig "Nie wieder!" ins Ohr.

    Die Sehnsucht wächst, die nach Liebe, nach einem Mann und die Einsamkeit multipliziert sich mit ihr.
    Im Moment schaffst du das ganzgut mit Stefan B. Warum lässt Du es nicht zu, mich lediglich darüber freuen zu können, dass ich ihm begegnet bin, ihn kennenlernen durfte. Und wenn ich bedenke, wie verrückt und außergewöhnlich sich unser Aufeinandertreffen gestalten hat und die Erkenntnisse meinerseits dabei auch nicht außer acht lasse, dann kann ich nur sagen, dass er einfach ein Geschenk des Lebens war, einfach so, nur der Freude wegen, nur der Buntheit wegen. Und wenn ich die Stunden, die für uns bestimmt waren, aufaddiere, ergeben sie ziemlich genau 24. Einen Tag also. Ein Tag, solange wie das gesamte Leben einer Eintagsfliege dauert. Und wie kostbar sind wohl für sie diese 24 Stunden...?

    Hallo Traurigkeit. Warum also lässt du mich das Glas immer wieder als halbleer betrachten, obwohl es doch halbvoll ist? Du überfällst mich immer dann, wenn ich einen mir wichtigen Menschen wieder loslassen muss. Dabei habe ich es schon oft genug erlebt, dass das Leben mir immer wieder neue Menschen auf meinen Weg stellt. (Nein, nicht in den Weg, das stehst ja bereits Du mit Deiner Mächtigkeit!) "Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine neue Tür!"

    Ich weiß bzw. glaube, dass das Leben mir zur rechten Zeit das beschert, was ich brauche und was wichtig ist für mich. Und sicherlich nicht unbedingt immer im Einklang mit meinen Wünschen liegt. Eigentlich könnte ich mich doch gut aufgehoben wissen, im meinem Leben. Doch Du knallst dazwischen, stampfst mit dem Fuß auf und brüllst: "Ich will aber!" Du erscheinst mir wie ein trotziges Kind. Sturkopf!!!!

    Auf der anderen Seite, bist Du aber auch etwas, was mir sicher ist, was bleibt. Irgendwo brauche ich Sicherheit. Und Du, Du wirst immer wieder zu mir zurückkommen. Dich muss ich niemals loslassen. Dabei würde ich Dich am allerliebsten zum Mond schießen, ach was noch viel weiter weg, in eine völlig andere (unbewohnte) Galaxie katapultieren. Es ist paradox. Doch entspricht es absolut der Wahrheit, daß ich mich sicher bei Dir fühle, und dass Du alles bist, was bleiben wird und gleichzeitig will ich Deine Nebenwirkungen, nämlich traurig sein, nicht aushalten müssen.

    Du fragst, woher ich das weiß? Es wurde mir klar, als ich über ein Gespräch mit Herrn U. nachdachte. Gleich zu Beginn erzählte ich ihm von meiner Hoffnungslosigkeit und dass letztendlich ich selbst ein hoffnungsloser Fall sei. Er versuchte meine Betrachtungsweise zu widerlegen, und ich dachte mir bloß, "jetzt will er mir das auch noch nehmen, dann habe ich ja überhaupt nichts mehr."

    Doch wenn ich insgesamt und logischnüchtern denke, dann kann nichts ohne Gegensätze existieren, das eine nicht ohne das andere sein, wo keine Leere, da keine Fülle, wo Traurigkeit, da auch Freude.
    Allerdings, inwieweit erlebe ich euch beide als ausgewogen? Oder sehe ich schon wieder in die falsche Richtung? Will ich mich vielleicht doch lieber in Dir suhlen, wie die Sau im Morast? Und warum erzähle ich anderen Menschen von Dir? Damit sie sich Sorgen, Gedanken um mich machen? Um jemanden, der lachend durchs Leben läuft, braucht sich schließlich niemand zu kümmern. Welch schwachsinniges Denken!

    Es wird trotzdem Menschen in meinem Umfeld geben, gute Gespräche, und all das was mir wichtig ist im Zusammensein mit anderen.
    Also Traurigkeit, es gibt keinerlei Gründe für Dich, in meinem Sein vorhanden zu sein, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Du bist ein Gefühl. Meine Gedanken bringen Dich zur Welt, in meine Wirklichkeit.
    Im Buch der erfundenen Wirklichkeit von Paul Watzlawick steht geschrieben, so wie du die Welt betrachtest, so wird sie dir erscheinen...

    Ich bin allmächtig. Ich bin die Schöpferin meiner Wahrheit, nicht Du, Traurigkeit. Ich wähle die Brillen aus, die ich mir überstülpe. Ich setze die Grenzen, ich entscheide. Die Macht ist mir. Die goldene Krone, die ich Dir aufgesetzt habe, hat keinen Platz auf Deinem Kopf. Du regierst über mein Leben und verhinderst es, lässt es nicht zu. Ich will nicht mehr in Dir ertrinken.

    Es gibt noch andere Gefühle. Jedoch will ich auch nicht mehr in jenen ertrinken. Meistens bin ich abgesoffen, wenn Liebe mit ihm Spiel war. Liebe + Traurigkeit, wie ein Ehepaar ewiglich miteinander verbunden, bis dass der Tod sie scheiden möge...

    Die Liebe stirbt.
    Die Traurigkeit bleibt.
    Vorhin habe ich noch von den Gegensätzen geschrieben, die einander brauchen, um sich zu ergänzen. Seltsam, Liebe + Traurigkeit, ihr seid keine Gegensätze. Liebe + Hass würde Sinn machen, Traurigkeit + Freude ebenso. Aber Liebe + Traurigkeit, wie passt ihr zusammen?

    Gerade habe ich das Aufgeschriebene noch einmal durchgelesen, und ich staune über die Gedanken, die auf dem Papier sichtbar geworden sind. Und was fange ich jetzt damit an? Und vor allen dingen, wo fange ich an? Fühle mich verwirrt. Wie kann das alles ein Bild ergeben? Und doch entspricht alles der Wahrheit, fügt sich zusammen in meiner Wirklichkeit, die ich erfunden habe. Alles hat Anteil. Alles hat seine Stunde, seine Zeit, wie Kohelet schreibt. Auch Du Traurigkeit bist nur ein Stück vom ganzen. Ein Atom, ein Molekül, ich weiß es nicht, doch gehörst Du dazu, damit das Ganze vollkommen sein kann.

    Hallo Traurigkeit, ja ich denke, ich sollte Dich endlich akzeptieren und aufhören mich gegen Dich wehren zu wollen.
    Was ist eigentlich das Gegenteil von aufhören? Zuhören?!!!

    Es ist spät geworden. Eine leere Zigarettenschachtel gähnt mir entgegen und ich gähn müde zurück. Wünsche mir, dass dieser Brief den Beginn eines Miteinanderzurechtkommens bedeutet. Übrigens, der einzige, der gerade noch fit ist, scheint Simply Red zu sein. Er singt noch immer. Wenn alles glatt geht, besuche ich ihn im März 2000 auf einem Konzert in München. Falls es nicht klappen sollte, darfst Du mich auch traurig sein lassen, aber bitte im angemessenen Ausmaß!


    Margit 16.11.1999

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